EINE FRAGE DER SELBSTBESTIMMUNG: DAS EREIGNIS VON ANNI ERNAUX IM BERLINER ENSEMBLE

EINE FRAGE DER SELBSTBESTIMMUNG: DAS EREIGNIS VON ANNI ERNAUX IM BERLINER ENSEMBLE

Triggerwarnung: Dieser Text beschäftigt sich mit dem Thema Abtreibung. 

Kaum jemand hat so klar über eine ungewollte Schwangerschaft geschrieben wie die französische Autorin Annie Ernaux: In der autofiktionalen Erzählung „Das Ereignis“ schaut die Literaturnobelpreisträgerin zurück auf das Jahr 1963, als Abtreibung in Frankreich noch gesetzlich verboten war. Damals wird die junge Annie schwanger und weiß schnell, dass sie das Kind nicht behalten kann. Als Erste in ihrer Familie hat sie es aus dem Arbeitermilieu bis an die Universität nach Rouen geschafft. Sie steht kurz vor dem Abschluss und ist sich sicher: Würde sie jetzt Mutter eines unehelichen Kindes, wäre der Aufstieg verloren. Nüchtern und offen, ohne Selbstmitleid, erzählt Ernaux von einer Zeit des Zweifelns und der Suche: Sie beschreibt den Weg von der Praxis eines feigen Arztes zu einer sogenannten Engelmacherin, die illegal Abtreibungen durchführt, bis in die Notaufnahme. Laura Linnenbaum und Amely Joana Haag haben den Stoff nun für die Bühne adaptiert. Im Berliner Ensemble leihen drei Schauspielerinnen – Nina Bruns, Pauline Knof, Kathrin Wehlisch – der Figur der Annie ihre Stimme. Sie stellen sie in verschiedenen Lebensphasen dar: einmal als junge Studentin, dann als Frau, die mit der Erfahrung der Abtreibung lebt, und schließlich als Autorin, die das Erlebte Jahre später zu Papier bringt.

Die drei ergänzen sich. Wenn eine ins Stocken gerät, führt eine andere den Text fort, sie treiben sich gegenseitig an und animieren sich zum Weitermachen. So ungeschönt wie Ernaux schreibt, so markant sind die Bilder, die die Inszenierung für ihre innerliche Zerrissenheit findet: Im Licht des Stroboskops verteilen die drei Frauen ganze Säcke voll Erde auf der blank polierten Bühne. Sie wälzen sich im Dreck und zerlegen nach und nach die Kulisse, nur um am Ende wieder alles rein zu fegen und das Haar zu richten, als wäre nichts gewesen. Wie isoliert die Figur der Annie gegen die Gleichgültigkeit der Welt ankämpft, zeigt sich am eindrücklichsten in den stillen Momenten – vor allem dann, wenn sich die drei Darstellerinnen zu einem Ich zusammen schmiegen. An die Aktualität der Erzählung erinnert ein kurzer Einwurf im sonst textnah inszenierten Stück: Auch in Deutschland sind Abtreibungen noch immer nicht legal. Lediglich die Beratungspflicht sorgt dafür, dass Schwangerschaftsabbrüche straffrei bleiben. Wie schnell sich eine solche Gesetzgebung ändern kann, sah man zuletzt in den USA. Im vergangenen Sommer kippte der konservativ dominierte US-Supreme Court das landesweite Recht auf Abtreibung und setzte somit das 50 Jahre geltende Grundsatzurteil Roe vs. Wade außer Kraft. Diese Entwicklungen führen vor Augen, wie wacklig das Recht auf weibliche Selbstbestimmung ist. Und wie wichtig Ernauxs Erzählung bis heute bleibt.

Text: Laura Storfner / Fotos: JR Berliner Ensemble

Berliner Ensemble, Bertolt-Brecht-Platz 1, 10117 Berlin–Mitte; Stadtplan

Das Ereignis von Annie Ernaux. Aus dem Französischen von Sonja Finck. In einer Bühnenfassung von Laura Linnenbaum und Amely Joana Haag.
Termine: 13 & 14.03.2023 (ausverkauft – Restkarten sind möglich). Weitere Daten: 27. & 28.04.2023.

@blnensemble

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