So treffend wie die Amerikanerin Aubrey Levinthal hat wohl kaum eine andere Künstlerin die Anfänge des Pandemie-Alltags in Bilder gefasst. Erleben lassen sich ihre Gemälde aktuell in der Galerie Haverkampf Leistenschneider. Philipp Haverkampf und Carolin Leistenschneider, die diese Galerie gemeinsam führen, widmen Levinthal ihre erste Einzelausstellung in Europa. Ihre neuen Arbeiten beschreiben eindrücklich das besondere Zeitgefühl, das mit Lockdowns und Homeoffice in unser Leben eingezogen ist: Weil es angesichts von Kontaktbeschränkungen nicht viel zu erleben gab, konzentrierten sich viele Menschen auf die Zeit selbst – und bemerkten, dass sich einzelne Tage zäh und ereignislos hinzogen, ganze Monate jedoch gefühlt wie im Flug vergingen. Levinthals Szenen begleiten ihr Alter Ego, eine junge Frau mit dunklem Haar, beim Navigieren durch diese neuen Zeitzonen. Sie lässt uns nicht nur in ihr Zuhause, sondern auch in ihr Innenleben ein: Wir sehen der Figur beim Nachdenken und Warten zu: warten darauf, dass endlich etwas passiert.
Wir beobachten sie zwischen Regalen im Supermarkt, beim Picknick mit einem Freund, alleine auf einer Parkbank. Ungeduldig wirkt die Figur dabei nie: Umgeben von einer unsichtbaren Tauchglocke lässt sie sich schlaftrunken durch die Tage treiben. Sie nimmt am Alltag teil und ist doch nie vollkommen präsent. Zugleich richtet Levinthal den Blick auf das, was es im begrenzten Radius zwischen Studio und Supermarkt zu entdecken gibt: die eigene Spiegelung im Schaufenster einer geschlossenen Boutique, die verschneiten Dächer der Nachbarschaft und der aufgeklappte Laptop auf dem Küchentisch. Nicht nur ihre Figuren wirken der Gegenwart entrückt, auch die Stillleben, so vertraut sie sein mögen, sind voller Melancholie. Ihre Interieurs und Fensterbilder erinnern an die späte Alice Neel, die in der schlichten Ansicht einer verschatteten Häuserfront die eigene Einsamkeit transportieren konnte. Levinthals trübe, ausgewaschenen Farben, die sie auf Holz aufträgt, verstärken dieses Gefühl: Sie legen sich übereinander wie endlose Stunden, an die wir uns später kaum erinnern können. Levinthal zeichnet so auch das Porträt der Müdigkeitsgesellschaft, die sich nicht erst seit Corona von Arbeitstag zu Arbeitstag schleppt. In gewisser Weise lassen sich ihre Gemälde als Weckrufe lesen: Denn in jedem Stillstand liegt die Chance für einen Neuanfang.
Text: Laura Storfner / Credit: Haverkampf Leistenschneider, Berlin; Aubrey Levinthal / Fotos: Jens Ziehe
Haverkampf Leistenschneider, Mommsenstr.67, 10629 Berlin–Charlottenburg; Stadtplan
Aubrey Levinthal – House Weary, bis 26.03.2022, Mi–Fr 11–18h, Sa 11–16h
@aubreylevinthal
@haverkampfleistenschneider