VERLOREN IM JETZT: MIT LITERATUR VON DREI AUTORINNEN DURCH DEN WINTER

VERLOREN IM JETZT: MIT LITERATUR VON DREI AUTORINNEN DURCH DEN WINTER

Anders als der Titel vermuten lässt, spielt Helene Hegemanns Erzählband „Schlachtensee“ nicht im Berliner Südwesten. Ihre fünfzehn neuen Geschichten nehmen uns mit an verschiedene Orte auf der Welt zu verschiedenen Menschen, die alle lose miteinander verbunden sind. Da ist Esther, die an der französischen Atlantikküste surft und über vieles, vor allem die Krebserkrankung ihres Vaters, nachdenkt. Da ist Ketti, die am Weihnachtsmorgen übernächtigt mit dem Zug durch die oberösterreichische Provinz irrt. Die Geschichten führen an die Wolga, nach Kitzbühel, zu einem Garten in South Carolina und in ein Hotelzimmer am Nil. Klug und klar beschreibt Hegemann die Widersprüche und den Schmerz, aber auch die Verletzlichkeit und Offenheit, mit der ihre Figuren durch das Leben treiben. Treiben lässt sich auch die Protagonistin in Sloane Crosleys neuem Roman „Cult Classic„: Lola, Journalistin, Ende 30 und frisch verlobt, läuft in Chinatown einem ihrer Ex-Freunde in die Arme und denkt sich nicht viel dabei. Bis sie am nächsten Tag eine andere verflossene Liebe trifft und am übernächsten Tag noch eine. Dass diese Begegnungen kein Zufall sind, wird spätestens klar, als ihr ehemaliger Chef (früher Redakteur, heute selbsterklärter Health-Guru und Millionär) ihr eröffnet, er habe ein neues Start-up gegründet. Es soll Menschen über Trennungen hinweghelfen – und Lola wurde unfreiwillig als erste Testperson auserkoren.

Dass die Erzählung nicht an eine schlechte Folge von Black Mirror erinnert, liegt an Lolas Witz, ihrer Skepsis und den herrlich bösen Alltagsbeobachtungen, die mit allem abrechnen, was hip und gegenwärtig ist. Am Ende, so scheint es, bleibt die einzige Konstante in Lolas Leben ohnehin nur die Stadt, die sie liebt: New York. Die Verlorenheit teilt Lola mit den Figuren in Hanna Bervoets‘ neuem Roman „Dieser Beitrag wurde entfernt„. Als Schauplatz dient hier das fiktive Unternehmen Hexa – ein Dienstleister, der Inhalte für eine große Online-Plattform evaluiert und moderiert. 2017 hatte der Guardian enthüllt, nach welchen Kriterien Facebook-Beiträge und Hasskommentare online löschen lässt, wie belastend diese Arbeit für die Angestellten ist und damit weltweit Entsetzen ausgelöst. Hier setzt Bervoets‘ Geschichte an: Sie zeigt in beeindruckend unbeeindruckter Sprache eine Welt aus verstörenden Bildern, menschlichen Abgründen und unmenschlichen Arbeitsbedingungen. Mittendrin: Kayleigh, eine junge Frau, die nicht so sehr die schrecklichen Videos und Fotos beunruhigen, sondern vielmehr das Verhalten ihrer Kolleg:innen. Je mehr die Grenzen der virtuellen und analogen Welt verschwimmen, desto mehr drängt die Frage: Ist auch Kayleigh so verloren im Jetzt, dass sie nicht einmal merkt, wie sie sich von Verschwörungserzählungen mitreißen lässt?

Text: Laura Storfner / Cover: Cult Classic / Fotos: Cottonbro, Tima Miroshnichenko & Francesca Meni

Helene Hegemann: Schlachtensee. Stories, Kiepenheuer & Witsch, 2022, 266 Seiten, 23 Euro

Sloane Crosley: Cult Classic. Farrar, Straus and Giroux MCD, 2022, 304 Seiten, 29 Euro

Hanna Bervoets: Dieser Beitrag wurde entfernt, Hanser Berlin, 112 Seiten, 20 Euro

@kiwi_verlag
@fsgbooks
@hanserberlin

cee_cee_logo