Laptop ausschalten, Handy beiseitelegen und hinein in die reale Virtualität: Heute Abend eröffnet Anna Ehrenstein ihre erste Soloausstellung „The Balkanization of the Cloud“ bei Office Impact im Arminiuskiez – bereits seit 2018 ist die Galerie hier zu finden. Ehrenstein führt in eine dezentralisierte digitale Weltordnung, in der Ernüchterung angesichts totalitär agierender Technologien die utopische Verheißung einer global agierenden Cloud längst abgelöst hat. Auch Nationalstaaten betreiben in ihrer Bestrebung nach (geo-)politischer Einflussnahme Social Media Arbeit, wie die dreiteilige Videoarbeit „The Nationstate as Instagram Influencer“ darlegt. Ehrenstein collagiert ihre albanisch geprägte künstlerische Position mit der des brasilianischen Künstlers Lux Venerea und dem israelischen Videokünstler Jonathan Omer Mizrahi. Satirisch beschwören Ehrenstein und ihr albanischer Großvater Affirmationen der White Supremacy – in der Hoffnung, Albanien möge sich im Sinne der EU als „zivilisierte“ Nation erweisen, welcher der Status eines Mitgliedsstaats zugesprochen werden kann.
Omer Mizrahi reiste als Vlogger in das besetzte Westjordanland. Handgehaltene Kameraaufnahmen zeigen ein staatlich gefördertes ökologisches Weingut und eine Artist Residency, die online vom israelischen Staat beworben werden, um von der ausgeübten Gewalt an Palästinenser:innen abzulenken. Venerea wiederum kehrt Jair Bolsonaros Online-Hetze in ihr Gegenteil um und skizziert in überspitzter Manier Propaganda für Arbeitspartei und die LGBTQIA+-Community. Weg von nationalistischen PsyOp-Narrativen; Ehrenstein übt nicht nur haarscharfe Kritik aus, sondern erforscht auch emanzipatorische Möglichkeitsräume virtueller Vernetzung. Weiteres soll hier nicht verraten werden, denn der immersive Raum, den Ehrenstein schafft, muss einfach selbst erkundet werden. „The Balkanization of the Cloud“ erweist sich als eine Ausstellung politischer Sprengkraft, die in ihrer Komplexität doch zugänglich ist – und erfrischenderweise auch oft Momente der Komik entstehen lässt. Gekonnt schafft Ehrenstein einen Bedeutungszusammenhang, der die Fragmentierung des Web, die innereuropäische Position des Balkans und die staatliche Instrumentalisierung sozialer Medien verwebt. Es lohnt sich also, bei Office Impact aus der virtuellen Realität in die reale Virtualität einzutauchen.
Jil Gieleßen liebt Memes Wandern, und Uncanny Valleys. Wenn sie nicht über Kunst schreibt, arbeitet sie als Kunstvermittlung in der Sammlung Boros oder selbst als Kunstschaffende in Berlin. Im Dezember wird ihre erste Soloausstellung zur Endlosigkeit des Social Media Feeds in der Kölner Galerie Gold+Beton zu sehen sein.
Text: Jil Gieleßen / Fotos: Torben Hoeke, Katharina Kritzler & Maritsch
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The Balkanization of the Cloud 15.–22.10.2022, Mi–Fr 15–18h und nach Vereinbarung.
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