Was würde Michel Majerus wohl zu unserer Gegenwart sagen – zum russischen Angriffskrieg und zum Klimawandel, zur Twitter-Übernahme, zum Metaverse, zu Balenciaga und Netflix? Majerus, dieser viel zu früh verstorbene Künstler, der Berlin in den 1990ern prägte, sog als junger Mann alles auf: Er interessierte sich für Malerei des 20. Jahrhunderts genauso wie für MTV und Techno, Werbung und die Anfänge des Internets. Er machte keinen Unterschied zwischen Hoch- und Popkultur und denen, die die Grenzen dieser Sparten bereits vor ihm aufgehoben hatten. In seinen Gemälden stehen Referenzen auf künstlerische Pop-Überväter wie Andy Warhol und Jean-Michel Basquiat gleichberechtigt neben den Mainzelmännchen und Figuren aus der Sesamstraße. Schon früh war Majerus ein Meister der Bricolage, ein König des Remix, der seine Bildwelten aus Fragmenten des Alltags und subtiler Gesellschaftskritik zusammensetze. Es ist durchaus interessant, dass er dafür die traditionelle Malerei wählte und damit die Leinwand auch ein wenig vom Staub seiner Vorgänger:innen befreite. Denn was er malte, war zeitgemäß und doch immer eindeutig als sein eigener, unverwechselbarer Stil erkennbar. In gewisser Weise reflektiert Majerus‘ Praxis auch die neue Welt, in der er lebte – das wiedervereinte Deutschland als gesampelte Nation. Das KW Institute for Contemporary Art widmet ihm nun, 20 Jahre nach seinem plötzlichen Unfalltod im Alter von 35 Jahren, eine umfassende Einzelausstellung.
Der Fokus liegt auf den Anfängen seiner Karriere mit Werken aus der Zeit zwischen 1990 und 1996. Man begegnet Majerus, dem gebürtigen Luxemburger, als Kunststudent an der Akademie in Stuttgart und folgt ihm nach Berlin, wo er nach dem Mauerfall schnell zum Szeneliebling wird. Dieses Gefühl des Aufbruchs und des Unfertigen, das damals nicht nur Majerus’ Schaffen, sondern Berlin in seiner Gesamtheit erfasste, greifen die Kurator:innen in der Ausstellungsarchitektur auf: In der Haupthalle erinnern Baugerüstelemente an die Hauptstadt im Aufbau und verweisen zugleich auf Majerus’ Museumsdebüt 1996 in der Kunsthalle Basel. Das Design hebt auch hervor, dass Majerus nie an der Malerei als Medium an sich interessiert war, sondern immer auch ihre Limitierungen ausreizte – sei es ganz praktisch durch den Einsatz von Großformaten, die Museumssäle sprengten, oder theoretisch im stetigen Analysieren von zeitgenössischer Bildproduktion. Wie stark Majerus nachfolgende Generationen beeinflusst hat, heben neben dem KW Institute im Rahmen der Ausstellungsreihe Michel Majerus 2022 deutschlandweit auch andere Kunstinstitutionen hervor. In Berlin kann man sein Werk parallel im Michel Majerus Estate, in der Galerie Neugerriemschneider und ab 17. Dezember im Neuen Berliner Kunstverein entdecken und dabei sinnieren, wieso seine Gemälde bis heute so viel von unserer aktuellen Zeit in sich tragen.
Text: Laura Storfner / Credit: Michel Majerus, Ohne Titel, 1991, Michel Majerus Estate, 2022. neugerriemschneider, Berlin und Matthew Marks Gallery; Installationsansicht der Ausstellung Michel Majerus KW Institute for Contemporary Art, Berlin 2022; Michel Majerus, Robot, 1990, Michel Majerus Estate, 2022. Privatsammlung / Fotos: Wolfgang Pulfer, Jens Ziehe & Frank Sperling
KW Institute for Contemporary Art, Auguststr.69, 10117 Berlin–Mitte; Stadtplan
Michel Majerus: Early Works bis 15.01.2023
Mi, Fr–Mo 11–19h & Do 11–21h
Michel Majerus Estate, Knaackstr.12, 10405 Berlin–Prenzlauer Berg; Stadtplan
kosuth majerus sonderborg – an installation by Joseph Kosuth bis 18.03.2023
Sa 11–18h und nach Vereinbarung
Neugerriemschneider, Linienstr.155, 10115 Berlin–Mitte; Stadtplan
Michel Majerus – gemälde, 1994 bis 14.01.2023
Di–Sa 11–18h
Neuer Berliner Kunstverein, Chausseestr.128/129, 10115 Berlin–Mitte; Stadtplan
Michel Majerus 17.12.2022–05.02.2023
Di–Mi & Fr–So 12–18h, Do 12–20h
@kwinstitutefcontemporaryart
@michelmajerusestate
@neuerberlinerkunstverein