Erfahrungen und Gefühle aus ihrem eigenen Leben hat die Bildhauerin Louise Bourgeois schon früh in ihrer Kunst verwoben. Doch erst mit über 80 Jahren begann sie, Stoff zu bearbeiten, zu nähen und zu flicken – Techniken, die eng mit ihrer Kindheit und Familiengeschichte verbunden sind. Ihre Mutter betrieb in einem Vorort von Paris eine Werkstatt für Tapisserien, ihr Vater führte eine Galerie, in der er Wandteppiche und Antiquitäten verkaufte. Die Hinwendung zum Textilen war in Bourgeois‘ letzten Schaffensjahren auch eine Rückkehr zu ihren Wurzeln: Der Gropius Bau widmet diesem Kapitel ihres Œuvres nun zum ersten Mal in Deutschland eine eigene Ausstellung. Die über 80 Zeichnungen, Skulpturen und Installationen, in denen Kleider, Stoffe und Erinnerungen aus ihrer Vergangenheit zum Material werden, drehen sich um das Erleben des Alterns. In ihnen untersucht Bourgeois, was es bedeutet, Frau, Tochter und Mutter zu sein. Hier setzt sie nicht nur der eigenen Mutter einfühlsame Denkmäler, sie setzt sich auch erstmals mit der Idee der Reparatur als soziale Metapher auseinander.
Während Bourgeois‘ Mutter in ihrer Werkstatt Löcher in wertvollen Stoffen stopfte, wird das Nähen für Bourgeois zur Möglichkeit, Dinge neu zusammenzusetzen, Trennung zu überwinden und Heilung zu finden. Die Chance, über die Arbeit am Stoff Wiedergutmachung zu leisten, zieht sich als roter Faden durch die beeindruckende Schau. Obwohl die Melancholie und das Rätselhafte, das Bourgeois Werken eigen ist, auch zum Ende ihrer Karriere vorherrschen, geht von den späten, textilen Werken etwas Versöhnliches aus. Es ist diese Einfühlsamkeit, die aus den Stoffen spricht, die Louise Bourgeois hier ganz unmittelbar als Künstlerin und Mensch spürbar werden lässt. In ihren Auseinandersetzungen mit den großen Lebensthemen Liebe, Tod, Schmerz und Verzeihen kann man auch viel über sich selbst lernen – und gerade deswegen ist diese Ausstellung jetzt sehenswert.
Text: Laura Storfner / Credit: The Easton Foundation/VG Bild-Kunst, Bonn 2022, Foto: Luca Girardini & Credit: The Easton Foundation/VG Bild-Kunst, Bonn 2021, Foto: Christopher Burke
Gropius Bau, Niederkirchnerstr.7, 10963 Berlin-Kreuzberg; Stadtplan
Louise Bourgeois: The Woven Child, bis 23.10.2022, Mi–Mo 10–19h, Tickets 9 Euro / ermäßigt 6 Euro