„Die erste Wand war dünn. Sie hat nicht viel gesehen. Weil es so finster war. Man hat vom Fenster in den Hof geschaut.“ Paul Bokowskis Worte sind die ersten Zeilen, die ich auf ZfL Nachbarschaften lese – auf meinem Telefon, morgens im Bett, unter meinem eigenen Fenster. Die Kurzgeschichte spielt im Afrikanischen Viertel im Wedding, ich lese sie komplett. Wohin nun? Ich entschließe mich, hinter Mirna Funk die Bahnhofsstufen am Alexanderplatz hinunter zu laufen. Im Anschluss sitze ich neben Jan Brandt an einem Küchentisch in der Reichenberger Straße und lausche dem Dialog einer Wohnungsbesichtigung. So treffend niedergeschrieben, dass ich mich beim Lesen unwohl fühle. Ich denke an das Haus, in dem ich wohne, an die Menschen nebenan. Einer von ihnen hat mich auf den Nachbarschaften-Blog aufmerksam gemacht. Seit 2020 herausgegeben von Christina Ernst und Hanna Hamel, versammelt die am Leibniz-Zentrum für Literatur- und Kulturforschung entstandene Online-Anthologie zeitgenössische Texte aus Literatur und Theorie und bietet sich zum digitalen Flanieren durch Berlin und Umland an.
Die Autor:innen-Liste ist lang. Einen ganzen Vormittag lang folge ich noch Joshua Gross, Donna Stonecipher, Pascal Hugues und Lea Streisand von der Hufeisensiedlung bis nach Hellersdorf. Anschließend blicke ich aus meinem Fenster. Hier ist mehr Licht als bei Bokowski, viel Aussicht noch dazu. Bauarbeiter im Dachstuhl gegenüber, die frühen Spätikund:innen unten an der Ecke, der neu beschnittene Straßenbaum dazwischen. Alles erscheint ein bisschen poetischer, farbiger – das Haus, der Kiez, die Stadt. Danke Internet, denke ich, für diesen Nachbarschaften-Blog, der mir meine eigene Stadt so wunderschön bewusst gemacht hat, dass ich auf einmal ganz liebevoll für sie empfinde. Zumindest an diesem Samstagmorgen.
Text: Hilka Dirks / Fotos: Jonas Michel, Merle Büttner & Philipp Schlögl
Die Anthologie Nachbarschaften, herausgegeben von Christina Ernst und Hanna Hamel, ist eine Publikation des Interdisziplinären Forschungsverbunds (IFV) „Stadt, Land, Kiez“. Nachbarschaften in der Berliner „Gegenwartsliteratur“ am Leibniz-Zentrum für Literatur- und Kulturforschung in Berlin.
Die Texte sind in Originalsprachen veröffentlicht: Englisch und Deutsch. Der Blog wird fortwährend ergänzt.