Die schönste Zeit zum Lesen sind für mich die Tage zwischen Weihnachten und Neujahr: diese zähe Zwischenwoche, in der es – im Bestfall – nichts zu tun gibt. Auf E-Mails antworten schließlich automatisierte Out-of-Office-Benachrichtigungen. Man selbst steht höchstens vom Sofa auf, um Kaffee zu kochen, Tee nachzuschenken und die letzten Plätzchen aufzuessen. Damit es trotzdem spannend bleibt, schlägt man Romane auf, blättert in Kunstkatalogen und Essaybänden. Zu einem der besten Bücher, die in diesem Jahr (2024) erschienen sind, gehört für mich Colombe Schnecks „Paris Trilogie„. Die französische Journalistin erzählt in drei Teilen von Freund:innenschaft, Herkunftsfragen und Klasse. Man folgt einer Frau durchs Leben: lernt sie als Jugendliche im Paris der 1980er kennen, erlebt mit ihr freie Liebe, aber auch Trennungen und Verlust, bis man sich nach 200 Seiten gar nicht von dieser Frau Ende fünfzig verabschieden will, die sich im besten Sinne freigeschwommen hat. Als Frau, Mutter und Liebende älter zu werden, das versucht auch die Protagonistin in Miranda Julys neuem Roman „Auf allen Vieren„. Die Ich-Erzählerin macht sich auf zu einer Reise quer durch Amerika, die schon nach ein paar Kilometern in einem billigen Motel endet. Doch hier fängt der eigentliche Trip erst an. Schneks und Julys Autofiktion erinnert an Deborah Levy, die ihren neuen Essayband „The Position of Spoons“ Künstlerinnen wie Marguerite Duras, Colette und Lee Miller widmet – den Frauen, die ihr Leben und Schreiben beeinflusst haben.
In der Kunstwelt ist auch die Protagonistin von Joshua Großs neuem Roman „Plasmatropfen“ zu Hause: Doch Helen kann mehr als malen, sie ist auch telekinetisch begabt. Groß lässt uns in surreale Welten abdriften und ist doch ganz fest in der Gegenwart samt Klimawandel und Achtsamkeitsfragen verhaftet. Mit Samantha Harvey lösen wir uns vollends von der Erde: „Umlaufbahnen„, 2024 mit dem Booker Prize ausgezeichnet, katapultiert sechs Astronaut:innen in den Weltraum. In bezaubernden Sätzen beschreibt Harvey den schwerelosen Alltag im All: von Banalitäten bis zu den großen Fragen der Menschheit. Für Schwerelosigkeit haben die Figuren in Cemile Sahins neuem Roman keine Zeit: „Kommando Ajax“ erzählt in Rückblenden von Kunstraub, Auftragsmord und Freund:innenschaft zwischen den Niederlanden, Deutschland und Kurdistan. Sahin, die als Künstlerin in verschiedenen Medien zu Hause ist, schreibt wie eine Filmemacherin – mit schnellen Cuts und Tempo. Eine, die mit ihren Filmen schon in den 1970ern die Genregrenzen überschritten hat, war Chantal Akerman. An sie und ihr Werk hat in diesem Jahr das Kunstzentrum Bozar mit der großartigen Retrospektive „Travelling“ erinnert. Für alle, die die Ausstellung verpasst haben, skizziert der Katalog den Werdegang der großen Filmemacherin von Brüssel über New York bis in die Wüste von Mexiko. Nach Sizilien fahren wir mit Adriano Sack in seinem Debütroman „Noto„: Es ist eine Reise, auf der der Protagonist Konrad nach dem Tod seines Partners Abschied nehmen muss und neu anfangen kann. Einen experimentellen Rückblick auf die letzten zehn Jahre ihres Lebens liefert Sheila Heti mit „Alphabetical Diaries„: Ihre Tagebucheinträge der letzten Dekade hat die kanadische Autorin dafür in eine Excel-Tabelle eingefügt, die Sätze alphabetisch geordnet und dann bearbeitet, bis dieses Buch entstanden ist. Was wie Konzeptkunst klingt, liest sich, als hätte Heti die Sätze bewusst für das Jetzt geschrieben und die Autor:innenschaft nicht an das ABC ausgelagert: unheimlich lustig, traurig, scharf beobachtet – und doch bis ins letzte Detail konstruiert. So künstlich wie sich unsere Welt zwischen TikTok, A.I. und Botoxbehandlungen manchmal auch im echten Leben anfühlt. Wie viel Kunst und Radikalität im Gärtnern liegen kann, führen Olivia Laing und Richard Porter in ihrem unterhaltsamen „A Garden Manifesto“ vor. Im Stil eines Fanzines versammeln die beiden befreundete Künstler:innen, Regisseur:innen und Autor:innen, die in Essays, Fotos und Kurzeinträgen beweisen, dass der Garten eben nicht nur Rückzug, sondern auch Aufbruch darstellen kann. Und was könnte man sich nach einer Woche auf dem Sofa für 2025 Besseres wünschen als einen radikalen Neuanfang?
Text: Laura Storfner / Foto: Cottonbro
Colombe Schneck: Paris Trilogie, Rowohlt
Miranda July: Auf allen Vieren, Kiepenheuer & Witsch
Deborah Levy: The Position of Spoons, Hamish Hamilton
Joshua Groß: Plasmatropfen, Matthes & Seitz
Samantha Harvey: Umlaufbahnen
Chantal Akerman: Travelling, Editions Lannoo
Cemile Sahin: Kommando Ajax, Aufbau
Adriano Sack: Noto, Nagel & Kimche
Sheila Heti: Alphabetical Diaries, Fizcarraldo Editions
Olivia Laing & Richard Porter: A Garden Manifesto, Pilot Press
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