Emma Bovary langweilt sich. Sie langweilt sich in der französischen Provinz und in der Mittelmäßigkeit ihrer Ehe. Sie langweilt sich an der Seite ihres Ehemanns, der sich nicht, wie erhofft, als Protagonist in ihrer eigenen Lovestory herausstellt, sondern als träger Spießer. Der Ausweg: Sie stürzt sich in Affären und verschleudert ihr Geld, das geht – spoiler alert – nicht gut aus. Das Ende ist tragisch. „Bovary“ heißt das Tanzstück von Christian Spuck, in dem er sich der Handlung von Gustave Flauberts Roman „Madame Bovary“ annimmt und sie mit dem Staatsballett Berlin auf die Bühne der Deutschen Oper bringt. Die turbulente Geschichte der gelangweilten Ehefrau erzählt er in einer kontrastreichen Musikauswahl, in narrativen pas de deux und einer sehr guten Besetzung; der Abend gilt Michelle Willems, die als Emma die Geschichte einer Ehebrecherin (und einen der wichtigsten Romane des Realismus) tanzt. Und er gilt allen Zuschauer:innen, denn die Flucht aus vermeintlicher Ausweglosigkeit in die Selbstverschwendung und die Lust auf Realitätsferne scheinen derzeit nur allzu vertraut. Oder, wie Flaubert selbst gesagt haben soll: „Madame Bovary, c’est moi!“. Es bleiben Dir zwei letzte Vorstellungen, für die es noch Karten gibt – falls Du und Deine Liebsten Weihnachten in Berlin verbringen, könntet Ihr den Abend am 25.12.2024 (16 Uhr) gemeinsam in der Deutschen Oper einläuten.
Text: Inga Krumme / Fotos: Serghei Gherciu (mit der Erstbesetzung Weronika Frodyma)
Deutsche Oper, Bismarckstr.35, 10627 Berlin–Charlottenburg; Stadtplan
Bovary 21.12. & 25.12.2024. Tickets gibt’s hier.
@deutscheoperberlin
@staatsballettberlin
Inmitten von Chaos und Wandel, in einer Welt, die kaum einen Moment zum Innehalten lässt, wächst ein zartes Gegengewicht: die Kunst, einfach nur zu sein – im Hier und Jetzt. Es sind die kleinen, oft übersehenen Augenblicke, die uns erden – ein stiller Protest gegen die unerbittliche Geschwindigkeit des Alltags. Als die japanische Künstlerin Rinko Kawauchi im Sommer 2019 nach Island reiste, sehnte sie sich nach Raum und Zeit zur Reflexion – sie fand sie zwischen Geysiren und Gletschern. Eine mit Sehnsucht erwartete zweite Reise wurde jedoch durch die Pandemie verhindert. Stattdessen wandte sie sich der japanischen Insel Hokkaido zu, die sie im Winter des gleichen Jahres mehrfach bereiste. Ihre Eindrücke mündeten in ihre Serie „M/E“ – kurz für „Mother Earth“. Das Fotografiska zelebriert Kawauchis träumerische und poetische Bildsprache nun mit der Ausstellung „a faraway shining star, twinkling in hand„. Gezeigt werden Fotografien und Videokunst, die das Kleine mit dem Großen verbinden – der Blick auf Alltagsmomente in Fotografien, die mit geringen Schärfentiefen das Gefühl des Stehenbleibens verstärken, im Angesicht großer Naturphänomene. Rinkos Kunst ist geprägt von den massiven Umbrüchen in den letzten zehn Jahren – vom Erdbeben in Ostjapan bis zur Pandemie. Aber auch privat hat sich bei Rinko viel verändert: Sie hat geheiratet, ein Kind bekommen. Wie ein Leben in großen Wellen fühlte sich alles an, erzählt sie. Und obwohl die Zeit raste, schien während der Pandemie alles langsamer zu werden.
Alltagsmomente gewannen an Bedeutung, und die viele Zeit in ihrem Zuhause erinnerte sie zurück an ihre Kindheit – an endlose Sommerferien und die freien Stunden nach der Schule. Die Ausstellung widmet sich den Facetten menschlicher Vergänglichkeit – und Kawauchis ganz persönlichem Prozess des Älterwerdens. Doch sie greift noch weiter: Welche Zukunft haben wir und der Planet, auf dem wir leben? Was passiert mit den Gletschern, die sie einst in Island fotografierte? Mit „a faraway shining star, twinkling in hand“ eröffnet Kawauchi einen Raum für große Fragen – jene, auf die es vielleicht keine Antworten gibt. Wie können wir das Hier und Jetzt – diese Momente, so flüchtig sie auch sein mögen – mit Bedeutung füllen?
Text: Robyn Steffen / Credits: Rinko Kawauchi, Courtesy of Christophe Guye Galerie
Fotografiska, Oranienburger Str.54, 10117 Berlin–Mitte; Stadtplan
Rinko Kawauchi: „a faraway shining star, twinkling in hand“ 06.12.2024–20.04.2025
@fotografiska.berlin
@rinkokawauchi
Modernes Berlin. Zwanziger Jahre Berlin. Nachkriegs-Berlin. Nazi-Berlin. Start-up-Berlin. Wie viel Berlin lässt sich an einem einzigen Abend entdecken? Erstaunlich viel, wie Du am 01.12.2024 im legendären ehemaligen Café Kranzler in West-Berlin erleben kannst. An diesem besonderen Abend liest die Schauspielerin und Berliner Legende Katharina Thalbach aus dem Roman „Käsebier erobert den Kurfürstendamm“, geschrieben 1931. Die Lesung ist ein einmaliges Ereignis, denn normalerweise begeistert Thalbach das Publikum mit der Performance im Berliner Ensemble. Dort wird die Inszenierung wegen ihres scharfsinnigen Humors und ihrer absurden Leichtigkeit gefeiert. Jetzt bringt Thalbach ihren unverkennbaren Berliner Charme in die ikonische Rotunde des Café Kranzler, dessen rot-weiße Markisen seit Jahrzehnten ein Wahrzeichen des alten Westens sind. Seit Juli wird das historische Gebäude unter dem Namen Kranzler X neu bespielt – ein kreativer Ort für temporäre Stores, Ausstellungen und Events. Nach Thalbachs theatralischem Streifzug durch das Leben am Ku’damm kannst Du bei Drinks in der Rotunde und mit Blick über die City West den Abend ausklingen lassen. Eine Veranstaltung, die Du nur hier sehen kannst: Berlin, destilliert. Meta-Berlin. Eine Matrjoschka voller Geschichten und Stimmungen über diese Stadt.
Text: Benji Haughton / Fotos: Cansu Kuscu, Moritz Haase
Café Kranzler, Kurfürstendamm 20, 10719 Berlin–Charlottenburg; Stadtplan
„Käsebier erobert den Kurfürstendamm“ Lesung mit Katharina Thalbach.
01.12.2024 19h. Tickets gibt’s hier.
Manche Bauwerke zeichnen sich nicht nur durch ihre Architektur aus, sondern auch durch die Artefakte, die sie beherbergen. Das Dokumentationszentrum Flucht, Vertreibung, Versöhnung – ein Museum, das reale Geschichten über Geflüchtete und Vertriebene erzählt – ist wohl ein solcher Ort. Scharfes, minimalistisches Design und raue Betonoberflächen prägen das Zentrum, das sich gegenüber der Ruinen des ehemaligen Anhalter Bahnhofs in der Nähe des Potsdamer Platzes befindet. Eine Wendeltreppe – entworfen von den österreichischen Architekten Marte.Marte – führt hinauf zur Ausstellung. Das Herzstück ist eine beeindruckende Dauerausstellung, die politisch, ethnisch und religiös begründete Zwangsmigrationen im 20. Jahrhundert in Europa und darüber hinaus beleuchtet. Die Flucht und Vertreibung der Deutschen im und nach dem von Deutschland ausgegangenen Zweiten Weltkrieg bilden dabei den Fokus der Ausstellung. Auf 1500 Quadratmetern sind Fotos, Texte, audiovisuelles Material und physische Objekte zu sehen. Es werden Schwimmwesten von Migrant:innen aus dem Mittelmeerraum gezeigt, Töpfe und Pfannen, die von der UNO an Geflüchtete aus Bangladesch ausgegeben wurden, und Hausschlüssel, die von Deutschen aufbewahrt wurden, die aus Königsberg (heute Kaliningrad) vertrieben wurden. Viele der Artefakte tragen das Gewicht von Verlust und Gewalt in sich – zwei Dinge, die das vergangene Jahrhundert gezeichnet haben und die Gegenwart weiterhin prägen. Während Du durch die Ausstellung läufst, wirst Du den ganz eigenen Raum der Stille bemerken, den das Zentrum beherbergt – einen fast skulpturalen, in dem Licht und Schatten eine introspektive Atmosphäre schaffen. Dieser Ort ist so bewegend, wie die Geschichten selbst.
Text: Benji Haughton / Fotos: Gröteke, SFVV
Dokumentationszentrum Flucht, Vertreibung, Versöhnung, Stresemannstr.90, 10963 Berlin–Kreuzberg; Stadtplan
@flverver
Noah Davis malte alltägliche Situationen. Eigentlich, denn Davis‘ Bildwelten kommen einem verträumt vor. Der verschleierte Blick seiner Modelle, der merkwürdig wolkenlose Himmel, die fensterlosen Fassaden – seinen Arbeiten wohnt eine träge Schönheit inne. Man fühlt sich wie in einem Traum, in dem man sich nicht sicher ist, ob man schläft. Das Setting: Seltsam häuslich und leicht beunruhigend. Für seine Motivsuche ging Davis auf Flohmärkte, durchforstete private Archive und Familienfotos. Seine Bilder zeigen People of Color. Im öffentlichen Schwimmbad, in Straßenszenen, zu Hause auf dem Sofa. Über seine eigene Arbeit sagte Davis, dass sie nicht politisch sei – wenn überhaupt, dann durch die Tatsache, dass er Schwarze Menschen in alltäglichen Situationen zeigt. In seinen Bildern macht er Normalität zur Hauptdarstellerin und haucht ihr Magie ein. Das Minsk zeigt seit September 2024 seine erste institutionelle Retrospektive, eine Kollaboration mit dem Barbican in London und dem Hammer Museum in Los Angeles, Davis’ Heimat. Mit 60 Arbeiten aus seinem gesamten Werk, bisher ungezeigten Gemälden, Papierarbeiten und Skulpturen zeigt die chronologisch angelegte Ausstellung Davis’ unermüdliches Schaffen vom Jahr 2007 bis zu seinem frühen Tod im Jahr 2015. Parallel zur Ausstellung wird die Performance „In Circulation“ uraufgeführt: Sieben Sänger:innen performen zwischen Jazz, Neo-Soul, Experimental-Elektronik und Tanz. Das Stück erforscht die zyklische Natur des Lebens.
Text: Inga Krumme / Fotos: Ladislav Zajac & Stefan Wieland / Credit: Noah Davis, Installation view of the exhibition Noah Davis, DAS MINSK Kunsthaus in Potsdam 2024, The Estate of Noah Davis; Courtesy The Estate of Noah Davis and David Zwirner; Noah Davis, Untitled, 2015; The Museum of Modern Art, New York; Geschenk von Marie-Josée und Henry R. Kravis anlässlich des 80; Geburtstages von Jerry Speyer, 2020; The Estate of Noah Davis; Courtesy The Estate of Noah Davis und David Zwirner
Das Minsk Kunsthaus in Potsdam, Max–Planck–Str.17, 14473 Potsdam; Stadtplan
Noah Davis bis 05.01.2024. In Circulation 22. & 23.11.2024
@dasminsk