Spätestens seit Bonaventure Soh Bejeng Ndikung, seines Zeichen Gründer und ehemaliger künstlerischer Leiter von Savvy Contemporary im schönsten Gebäude Tiergartens die Intendanz übernommen hat, ist das Haus der Kulturen der Welt zu einem der interessantesten und komplexesten Kulturorte Berlins geworden. Die aktuelle Forschungs- und Ausstellungsprojekt Forgive Us Our Trespasses / Vergib uns unsere Schuld – Von (un)wirklichen Grenzen, (Un)Moral und anderen Überschreitungen lädt Künstler:innen, Wissenschaftler:innen, Aktivist:innen und natürlich Besuchende dazu ein, über religiöse, soziale, klassenbezogene, nationale, sexuelle, disziplinarische und andere Formen des Überschreitens und Übertretens nachzudenken. Vor dem Hintergrund aktueller und vergangener Strömungen der Migration versammelt die Gruppenausstellung teils sehr sinnliche und intuitive, teils hochkomplexe und auseinandersetzungsbedürftige Positionen diverser Genres mit teils drängender Aktualität, ohne dabei die Sinnlichkeit der Kunst aus dem Blick zu verlieren.
Ob Ahmet Öğüt mehrkanalige Video-Installation versteckter Moscheen in Berlin, Tanja Ostojićs fragil-gesticktem Kalender, Zeugnis des regelmäßigen Schwimmens in den Seen der Stadt und der einsetzenden Menopause oder Leiko Ikemuras energetischen Malerei eines wilden Spinnenwesenes, Symbol einer überbordenden Weiblichkeit – viele der Arbeiten vereinen sinnlichen Erkenntnisgewinn und intellektuelle Nahrung und beleuchten so ganz nebenbei die vielen Spielarten von Grenzüberschreitung und Schuld, Moral und Freiheit.
Text: Alina Herbel / Fotos: Malte Seidel & HKW
Haus der Kulturen der Welt, John-Foster-Dulles-Allee 10, 10557 Berlin–Tiergarten; Stadtplan
Forgive Us Our Trespasses bis 08.12.2024. Das begleitende Programm gibt es hier.
@hkw_berlin
Die Berlin Art Week ist für manche von uns die schönste Woche des Jahres – und wir sind schon wieder mittendrin. Falls Du vor lauter Arbeit noch gar nicht dazu gekommen bist, ins Programm zu schauen, kein Problem: Hier kommen die Höhepunkte der nächsten Tage. Auffällig und toll ist in diesem Jahr die Präsenz starker weiblicher Positionen. Heute Abend eröffnen gleich mehrere davon. In der Berlinischen Galerie kann man tief in Mariechen Danz‚ zeitgenössische künstlerische Forschung an der Schnittstelle von Performance und Wissenschaft eintauchen. Im Georg-Kolbe-Museum eröffnet einer der Teile der multi-institutionellen Retrospektive von Choreografin und Bildhauerin Gisèle Vienne. Besonders schön ist hier die Gegenüberstellung ihrer Arbeiten mit den Werken anderer weiblich gelesener Puppenbauerinnen der Avantgarde des letzten Jahrhunderts (Don’t miss Sophie Taeuber-Arps Bär <3). Wer gleich lieber kaufen statt gucken will, kann das ebenfalls heute Abend (12.09.2024 18h) tun: 50 fürs Flussbad heißt die Auktion, die, wie der Titel schon sagt, mit den Verkäufen dafür sorgen will, eines Tages in der Spree schwimmen zu können. In der unteren Preislage lohnt es sich durchaus auf ein Druck von Something Fantastic zu schielen. Es darf ein bisschen mehr sein? Wie wäre es dann mit einer kleinen gläsernen Skulptur der fantastischen Künstlerin Karin Sander? Kaufen, kaufen, kaufen und in jedem Fall gucken kann man natürlich auch am Freitag (13.09.) – dieses Jahr erstmalig bis 22 Uhr. Die Gallery Night lädt zum Entdecken in der ganzen Stadt, wer Malerei liebt, sollte unbedingt reinschauen bei Societe mit Conny Maier, Meyer-Riegger mit Caroline Bachmann, Trautwein Herleth mit Rebecca Morris und Sprüth Magers mit Oliver Bak. Wer lieber nach Performance sucht, ist sicherlich bei Isabella Bortolozzi gut aufgehoben. „A hole is a hole“ heißt Lily Mcmenamys Performance, die dort zu sehen ist.
Am Samstag (14.09.) gehts weiter. Das Zehlendorfer Fluentum richtet einen Artist Talk mit Calla Henkel und Max Pitegoff (14 Uhr) aus und Ewa Dziarnowskas Performance “This Resting Patience” ist in den Sophiensaelen (15–18 Uhr) zu sehen. Abends gehen die Eröffnungen weiter, unter anderem zeigt das Neuköllner Kindl Zentrum Nina E. Schönfeld, Samuel Fosso und Alfredo Jaar. Den Sonntag könnte man dann perfekt in den Wilhelmhallen vertödeln, wo sich bei „Hallen 05“ erneut einige Galerien zur Gruppenausstellung zusammen gefunden haben. Außerdem haben diverse Sammlungen wie die Kienzle Art Foundation Open House. Abends zeigt das KW in der Auguststraße ein letztes Mal die Performance „Mean Time“ von Amina Szecsödy. Und dann ist die schönste Woche des Jahres schon wieder vorbei.
Text: Hilka Dirks / Credit: Samuel Fosso & JM Patras, Paris; Sarker Protic; Maix Mayer
Berlin Art Week, 11.–15.09.2024, in der ganzen Stadt verteilt. Das gesamte Programm der Art Week gibt es hier.
@berlinartweek
Im September erwachen die Berliner Theaterbühnen wieder zum Leben, und wenn Du auf progressives und zeitgenössisches Theater stehst, gehört das Maxim Gorki Theater definitiv zu den Hotspots. Das Schauspielhaus in Mitte bringt frischen Wind mit einer neuen Runde von Premieren und Dauerbrennern – und das Beste: Bei allen Stücken laufen englische Übertitel mit. Hier sind unsere Highlights der Spielzeit 2024/25: Los geht’s mit Oliver Frljićs Neuinterpretation von Kafkas Der Prozess, die am 21.09. Premiere feiert. Die Inszenierung zieht spannende Parallelen zwischen Kafkas bürokratischem Albtraum und heutigen Machtstrukturen und verleiht dem Klassiker eine aktuelle spätkapitalistische Relevanz. In der darauffolgenden Woche erwartet Dich die Weltpremiere von Wiedergutmachungsjude, der Bühnenadaption des gleichnamigen Buches von Dichter Daniel Arkadij Gerzenberg (27.09., Studio Я). Die intime Auseinandersetzung mit Trauma und Identität ist Teil der Reihe Fяemde Poesie, die eben diese für die Bühne inszeniert. Im Oktober folgt dann eine weitere Premiere: Linkerhand, die Geschichte der jungen ostdeutschen Architektin Franziska Linkerhand, die ihre bürgerlichen Wurzeln hinter sich lässt, um sozialistische Ideale in einer Modellstadt zu verwirklichen.
Die Premiere ist am 18.10. – eine Reise durch Desillusion und gesellschaftliche Ideale. Neben diesen Premieren kehren auch Publikumslieblinge zurück, wie In My Room, ein Stück von Regisseur und Autor Falk Richter, das moderne Männlichkeit seziert. Das Stück wurde 2020 bei den 45. Mülheimer Theatertagen nominiert und ist ab dem 11.10. wieder zu sehen. Das komplette Programm und Tickets findest Du auf der Website des Gorkis.
Text: Benji Haughton / Fotos: Nils Tammer, Judith Buss & Gorki
Maxim Gorki Theater, Am Festungsgraben 2, 10117 Berlin–Mitte; Stadtplan
Das ganze Programm kannst Du online einsehen.
@maxim_gorki_theater
Die meisten wissen mittlerweile, dass die Julia Stoschek Foundation vielleicht die spannendste Sammlung Berlins beherbergt. Die meisten wissen auch, dass die Openings dort mit die besten der Stadt sind. Und wie immer, wenn der Herbst beginnt, ist es wieder so weit. Am 11.09.2024 ab 18 Uhr wird es voll in den heiligen Hallen. „After Images„, so der Name der Gruppenausstellung, präsentiert über 30 Werke, dabei viele für die Ausstellung entstandene Neuproduktionen. Die präsentieren Werke und Interventionen fordern den Begriff der zeitbasierten Kunst heraus und versuchen unser Verhältnis zur zeitgenössischen Bildkultur neu zu justieren. Statt Videokunst, für die die Sammlung dem breiten Publikum bekannt ist, haben die Kuratorinnen Lisa Long und Line Ajan haptische und multisensorische Positionen ins Zentrum der Ausstellung gerückt. Die Materialität der Arbeiten, Textur, Geruch, Klang und Erfahrung fordern unsere gewohnte Hierarchisierung des visuellen Sinns heraus und stellen seine Dominanz infrage – after image eben. Bilder sind halt auch nur eine der Möglichkeiten, die Welt zu verstehen – schließlich heißt es nicht umsonst be-greifen.
So ergießt beispielsweise die großartige Laurel Halo eine ihrer ätherischen Soundinstallationen in die Sammlung, während eine Lichtinstallation von Theresa Baumgartner und eine olfaktorische Intervention von Chaveli Sifre die Räume multisensorisch verändern. Weitere Arbeiten sind von großen Namen wie Rosa Barba, Carsten Nicolai und vielen mehr. Den Abschluss der Ausstellung bildet eine große Klang- und Lichtintervention von Labour, für die das Kino der Foundation umgebaut wurde. Alles gute Gründe, die Ausstellung zu besuchen. Für die volle Sinnlichkeit am besten direkt am Eröffnungsabend – wenn sich zu all der Kunst auch noch das Gemurmel der Gäste mischt.
Text: Alina Herbel / Fotos: Agustin Farias, Frankie Casillo & Robert Hamacher
Julia Stoschek Foundation, Leipziger Str.60, 10117 Berlin–Mitte; Stadtplan
After Images 12.09.2024–27.04.2025. Eröffnung am 11.09.2024 18–22h.
@juliastoschekfoundation
Immer im September passiert alles gleichzeitig: Alle Galerien und Museen feiern Eröffnung und auch Off-Locations nehmen den frühherbstlichen Buzz zum Anlass, Neues zu zeigen. Hier ein paar Empfehlungen für die nächsten Wochen abseits des Altbekannten. Weit draußen, am Ende der Stadt, liegt das Museum Reinickendorf. Dort, in der Etage für die kommunale Galerie, eröffnete schon gestern Abend (04.09.2024) mit „Kinky – Malerei im Saft“ eine Gruppenausstellung der „Berliner Szene“. Sicherlich immer schön sind die Arbeiten von Peter Klare (hoffentlich mit Pelz) und Nikolaus List(hoffentlich mit Nudeln). Eher minimal, dabei meist sehr, sehr hipp geht es im Projektraum Grotto am Hansaplatz zu. Morgen (06.09.) eröffnet dort Miriam Umiń. Weitere Eröffnungen des Abends gibt es mit freundlichen Keramiken von Lisa Tiemann bei Schwarz Contemporary in Kreuzberg, sowie „The Adventures of the Black Girl in Her Search for Mabel Dove“ von Nnenna Onuoha in der Acud Galerie im Prenzlauer Berg. Auch am Freitag (06.09.) geht es weiter mit Performance und Record Release der Ex-Tödliche-Doris Legende Käthe Kruse im wohl schönsten Off-Space der Stadt Möglichkeit einer Insel (schon allein das Cover-Artwork von Miriam Cahn macht neugierig auf Kruses neue Platte „Krieg“). Wer am Wochenende lieber die Stadt verlässt, könnte zur Wald Residency nach Nordbrandenburg fahren, hier stellt am Samstag (07.09.) Stipendiat Chris Succo aus.
Ein paar Tage Verschnaufpause sind uns gegeben, aber am 11.09. geht es direkt weiter. Scherben auf der Leipziger Straße eröffnet sowohl die Solo-Schau „I appreciate my uniqueness“ von John Boskovich, als auch eine begleitende Gruppenausstellung mit Arbeiten von Paul Levack, John Neff, Jasia Rabiej, Michel Wagenschütz, Isabelle Frances McGuire, Zoë Field, Shelim Alvarado and Albin Bergström. Parallel dazu, aber in Schöneberg, gibt es das Opening von Natalie Brehmer „Tracks & Fields“ in der charmanten Duodez Microkunsthalle. Am 12.09. ist dann wieder Gruppe angesagt, auch diesmal mit größtenteils Berliner All-Stars wie Charlie Stein und Zohar Fraiman im Hinterhof der Linienstraße bei SMAC. Von Martin Eder bis Bianca Kennedy sind alle dabei, das verwundert jedoch auch wenig, schließlich haben Philip Grözinger und Jonas Burgert eingeladen. Am selben Abend und nicht zu weit weg könnte man außederem Cory Arcangels Performance „The Audmcrs“, performed von Lena Willikens und präsentiert vom Michel Majerus Estate im Silent Green verpassen – oder eben nicht. Am 13.09. geht es wieder ein bisschen weiter weg, genauer gesagt zu Ksoik am Schäfersee. Dort ist „Solved und Unsolved Problems“ von Linus Lohmann, Sarah Lehnerer, Selina Reiter, Sunny Pudert zu sehen – letztere steuert noch eine Performance bei. Der zweite Teil wird schönerweise etwas zentraler gezeigt, an der Neuköllner Hasenheide. Am 14.09. rufen wir uns ins Gedächtnis, wie nah das Design an der Kunst ist: Die Objektliebhaber:innen von Foul Play gehen in die zweite Runde und zeigen fantastische Möbelobjekte bei Backhaus Projects in der Weserstraße. Ausklingen lassen sollte man die kommenden 14 Tage am besten in Ruhe. Wenige Orte könnten schöner dafür sein als die Fahrbereitschaft in Lichtenberg. Die Sammlung Haubrok lädt hier am 15.09. zu just „another Sunday afternoon“. Wer danach noch Kunst vertragen kann, der sollte sich einen Termin bei Peter Welz und Thomas Kratz machen. Die zeigen in Mitte im Hinterhof der Marienstraße 10 nämlich noch ihre heimliche Doppelausstellung bis Oktober. Und sie ist wirklich wunderschön.
Text: Hilka Dirks / Fotos: Lisa Tiemann Installation View Schwarz Contemporary 21; Martin Boyce; arrange whatever pieces come your way,; Haubrok Foundation; Silent Green
Details zu den Veranstaltungen gibt es auf den Webpages der jeweiligen Veranstalter:innen.
@grotto.berlin
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@acudmachtneu
@waldresidency
@scherben.scherben
@microkunsthalle
@smac_berlin
@silent.green
@michelmajerusestate
@ksoik.am.schaefersee
@foulplay.eu
@haubrokfoundation
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@thomaskratz